Selbstversuche – Wenn Forschende zu Versuchspersonen werden

Geschrieben von: Emily Locke

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Selbstversuche – Wenn Forschende zu Versuchspersonen werden

„Mit solchen Kunststücken habilitiert man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständigen deutschen Klinik.“ [1] Mit diesen erbosten Worten entließ Ferdinand Sauerbruch, der damalige Leiter der Charité, im November 1929 den jungen Arzt Werner Forßmann. Anlass war ein Aufsatz, in dem Forßmann ein medizinisches Wagnis beschreibt, das selbst für heutige Verhältnisse spektakulär erscheint: einen Selbstversuch, bei dem er sich als 25-jähriger Assistenzarzt eigenhändig einen Katheter über die Ellenbeugenvene bis in das rechte Herz vorschob – als erster Mensch überhaupt. Bereits während seines Studiums hatte sich Forßmann mit Herzdiagnostik beschäftigt und Katheterisierungen an Leichen erprobt [2]. Als sein damaliger Vorgesetzter Patientenversuche strikt ablehnte, fasste der junge Arzt einen drastischen Entschluss: Heimlich, während der Mittagspause, führte er sich selbst einen Katheter 30 Zentimeter tief in die Armvene ein. Anschließend begab er sich – mit dem Katheter noch in situ – in die Röntgenabteilung im Keller, schob die Sonde weitere 30 Zentimeter vor und ließ eine Aufnahme anfertigen. Das Ergebnis: Die Katheterspitze war deutlich im rechten Herzvorhof zu erkennen [1].

Wenig später veröffentlichte die Klinische Wochenschrift Forßmanns Arbeit „Über die Sondierung des rechten Herzens“ [3]. Doch wie die Reaktion seines Chefs Sauerbruch zeigt, stieß sie in der Fachwelt zunächst auf wenig Interesse. Forßmann geriet bald in Vergessenheit. Enttäuscht wandte er sich der Urologie zu und arbeitete schließlich als Hausarzt – bis ihn nach fast frei Jahrzehnten doch noch der späte Ruhm einholte: 1956 wurde ihm „für die Entdeckung der Herzkatheterisierung und ihre Bedeutung für pathologische Veränderungen im Kreislaufsystem“ der Nobelpreis für Medizin verliehen [4]. Forßmanns Selbstversuch ist kein Einzelfall in der Geschichte der Medizin: Immer wieder wagten mutige Wissenschaftler*innen den Blick in den eigenen Körper, um ihre Hypothesen zu überprüfen. Doch nicht alle wurden für ihren Pioniergeist mit Auszeichnungen geehrt – und manche bezahlten ihren Forscherdrang sogar mit dem Leben. 

Diese Themen warten auf Sie:

1) Tapfere Erforschung von Seuchen

2) Helden oder Verrückte? Zwischen Wissensdrang und Ruhmsucht

3) Kommen Selbstversuche wieder in den Trend? Mut in der Wissenschaft heute

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Tapfere Erforschung von Seuchen

Selbstversuche lassen sich in nahezu allen Bereichen der Medizin finden – doch nirgends ist das Risiko der Selbstschädigung so groß wie in der Infektiologie. Ein eindrückliches Beispiel ist der Fall von Andrew White: Als Anfang des 19. Jahrhunderts englische Truppen an Pest und Wechselfieber erkranken, vermutet der Arzt einen Zusammenhang beider Krankheiten – und träumt von einer Schutzimpfung gegen die Pest. 1802 infiziert sich White in einem ägyptischen Krankenhaus in voller Absicht mit Malaria und schmiert sich anschließend Eiter aus dem Lymphknoten einer Pestpatientin auf den Oberschenkel und in eine offene Wunde am Arm. Er hofft, dass der Kampf seines Immunsystems gegen den Malaria-Erreger seinen Körper gleichzeitig immun gegen die Pest macht. Doch der Effekt einer Pest-Schutzimpfung bleibt aus: White entwickelt hohes Fieber, die Lymphknoten in Achsel und Leiste schwellen an – wenige Tage später stirbt er. Auf diesen ersten dokumentierten Selbstversuch in der Pestforschung folgen zahlreiche weitere: Ärzte impfen sich mit dem Blut Erkrankter, drücken blutgetränkte Lappen auf frische Einstichstellen oder schlafen in der Kleidung von Verstorbenen. Jedoch erst 1894 gelingt dem Schweizer Arzt Alexandre Yersin der entscheidende Durchbruch: Er identifiziert den Pesterreger Yersinia pestis, nachdem er ihn im Lymphknotenmaterial Verstorbener mikroskopisch nachweisen konnte [5].

Trotz des hohen Risikos spielten Selbstversuche eine entscheidende Rolle in der Erforschung von Infektionskrankheiten – und sie tun es bis heute. Ein modernes Beispiel liefert der australische Mediziner Barry Marshall: Um zu beweisen, dass das Bakterium Helicobacter pylori für Magenulzera verantwortlich ist, trank er 1984 ein übelriechendes Gemisch aus dem Mageninhalt eines infizierten Patienten – eine Suspension voller Helicobacter-Bakterien. Kurz darauf entwickelte Marshall eine schwere Gastritis, die er erfolgreich mit Antibiotika heilte [5]. Sein drastischer Selbstversuch lieferte den entscheidenden Beweis für einen Paradigmenwechsel in der Magenforschung. Heute gehört der Helicobacter-Test zur Standarddiagnostik bei unklaren Magenschmerzen – auch dank des Wagemuts seines Entdeckers. 2005 wurde Marshall für diese Entdeckung der Nobelpreis für Medizin verliehen [6].

Helden oder Verrückte? Zwischen Wissensdrang und Ruhmsucht

Die Liste der Forschenden, die ihren eigenen Körper zum Experimentierfeld machten, ist lang: Einige entdeckten dabei Bahnbrechendes, andere bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Doch was trieb sie zu diesen gefährlichen Versuchen an? Nicht immer war es die selbstlose Sorge um das Wohl Anderer. Häufig standen Ruhm, Eitelkeit oder der unbedingte Glaube an die eigene These im Vordergrund. Ein besonders eigensinniges Beispiel liefert der Münchner Hygiene-Professor Max von Pettenkofer: Um seinem Widersacher Robert Koch zu beweisen, dass Cholera nicht allein durch Bakterien verursacht werde, trank er öffentlich ein Glas mit einer Suspension von Cholera-Erregern. Er überlebte mit einer leichten Darmverstimmung – vermutlich, weil er durch eine frühere Infektion immun war. Auch wenn Pettenkofer sich in seiner Annahme bestätigt sah, erwies sich sein wissenschaftlicher Standpunkt als Irrtum: Koch hatte recht [7].

Wie Pettenkofer riskierten viele Forschende ihr Leben mit der Absicht, ihre eigenen Thesen triumphal zu bestätigen und sich einen festen Platz in den Annalen der Wissenschaft zu sichern. Doch neben der Sehnsucht nach Ruhm war es oft auch echter Forscherdrang, der sie antrieb, bestehende Lehrmeinungen zu hinterfragen [8]. Viele von ihnen – wie etwa Werner Forßmann – vertraten Überzeugungen, die dem Zeitgeist widersprachen oder als unzumutbar galten. Ihre Selbstversuche waren nicht nur Akte des Mutes, sondern oft auch ein Aufbegehren gegen dogmatische Denkweisen – und damit Wegbereiter für Fortschritt.

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Kommen Selbstversuche wieder in den Trend? Mut in der Wissenschaft heute

Der Selbstversuch ist heute eine eher aus der Mode gekommene Methode. Forschungsfragen werden inzwischen in langwierigen Vorstudien überprüft, bevor regulierte klinische Studien am Menschen erlaubt sind – Ethikkommissionen und internationale Richtlinien setzen klare Grenzen. Und doch: Ganz verschwunden ist der Selbstversuch nicht. Immer wieder gibt es Einzelfälle, in denen Wissenschaftler*innen neue Therapien an sich selbst erproben – sei es aus Überzeugung, Verzweiflung oder schlichtem Entdeckergeist. Ein aktuelles Beispiel liefert die Molekularbiologin Beata Halassy von der Universität Zagreb: Sie forscht an onkolytischen Viren – also Viren, die gezielt Tumorzellen zerstören – und beschloss, ihren eigenen Brustkrebs mit Viren aus ihrem Labor zu behandeln [9].

(Mehr zu Beata Halassy und onkolytischen Viren erfahren Sie in diesem Blogartikel!)

Auch während der Corona-Pandemie erlebte der Selbstversuch eine kurzzeitige Renaissance: Zahlreiche Forschende injizierten sich selbst experimentelle Impfstoffe, die sie in ihren eigenen Laboren entwickelt hatten [10]. Diese Praxis sorgte für kontroverse Diskussionen – vor allem in ethischer und regulatorischer Hinsicht. Kritiker warnten, dass solche Selbstversuche das Vertrauen in etablierte Impfstoffzulassungen untergraben könnten. Wissenschaftler*innen aus den USA und Dänemark forderten deshalb die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA auf, klare Richtlinien zu formulieren und ihre regulatorische Autorität in diesen Fällen zu stärken. Ohne einheitliche Standards, so die Sorge, drohe nicht nur die wissenschaftliche Integrität zu leiden – auch das öffentliche Vertrauen in sichere und wirksame Impfstoffe könnte langfristig beschädigt werden [11].

 

In der Medizingeschichte gibt es zahlreiche Beispiele für Selbstversuche. Manche endeten tragisch, andere leisteten einen bedeutenden Beitrag für die Wissenschaft. Heute ist das Experimentieren am eigenen Körper aus ethischen und rechtlichen Gründen eher die Ausnahme. Trotzdem gibt es immer wieder Forschende, die bereit sind, persönliche Risiken einzugehen – was zeigt, wie schwierig das Gleichgewicht zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und ethischen Grenzen bleibt.

 

Quellen

[1] https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Der-Herzkatheter-Selbstversuch-Dichtung-und-Wahrheit-317637.html, 07.06.2025

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_For%C3%9Fmann, 07.06.2025

[3] Werner Forßmann: Die Sondierung des Rechten Herzens. Klinische Wochenschrift 8 (45), 1929, S. 2085–2087.

[4] https://www.nobelprize.org/prizes/medicine/1956/forssmann/facts/, 07.06.2025

[5] https://www.aerzteblatt.de/archiv/selbstversuche-forschung-unter-lebensgefahr-f2537b70-673c-49cb-bcbc-1ed03a0faedd, 07.06.2025

[6] https://www.nobelprize.org/prizes/medicine/2005/marshall/facts/, 07.06.2025

[7] https://www.spiegel.de/geschichte/verrueckte-selbstversuche-a-946798.html, 07.06.2025

[8] https://www.profil.at/wissenschaft/mut-in-der-forschung-die-tollkuehnen-selbstversuche-der-wissenschaft/402584621, 07.06.2025

[9] https://www.zeit.de/gesundheit/2024-11/beata-halassy-selbstversuch-brustkrebs-medizin, 07.06.2025

[10] https://sciencenotes.de/alles-wird-gut/selbstversuch-gegen-corona-2/, 07.06.2025

[11] Christi J. Guerrini et al. Self-experimentation, ethics, and regulation of vaccines. Science 369, 1570-1572 (2020).

 Preview-Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Werner_Forssmann_nobel.jpg?uselang=de, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Max_von_Pettenkofer2.jpg, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dr_Barry_Marshall_-_Nobel_Laureate.jpg?uselang=de, 07.06.2025