Die Entwicklung der Mikroskopie hat die Zellbiologie seit ihren Anfängen geprägt. Mit jeder technischen Verbesserung wurde der Blick in das Innere der Zelle schärfer und neue Strukturen wurden entdeckt. Bereits im 17. Jahrhundert wurde der Begriff „Zelle“ von Robert Hooke geprägt. Er lieferte die ersten Beschreibungen in seinem Werk Micrographia (1665), nachdem er die poröse Struktur von Kork mit einer ersten frühen Ausführung eines Mikroskops (Abb. 1) untersuchte [1]. Wenige Jahre danach ermöglichte Antonie van Leeuwenhoek durch selbstgefertigte hochauflösende Einzellinsen die Beobachtung von Protozoen und Bakterien, für die er den Begriff “animalcules” ins Leben rief, und eröffnete damit eine zuvor unbekannte mikrobielle Welt [2].
Man sollte meinen, dass die Zelle mittlerweile sehr gut erforscht ist und zumindest alle intrazellulären Bestandteile ausgemacht wurden. Doch weit gefehlt: Moderne Kryo-Tomographie erlaubt Einblicke, die zuvor unvorstellbar waren, und führte jüngst zur Identifizierung einer bislang unbekannten Organelle: dem Hemifusom.
1) Vom Kork zur Kryo-Tomographie: Wie Mikroskope unser Bild vom Leben formten
2) Das Hemifusom – eine neu identifizierte Organelle
3) Von der Zelle zur Therapie: Die potenzielle Bedeutung der Hemifusome
Die Arbeiten von Hooke und van Leeuwenhoek legten den Grundstein für den Siegeszug der Mikroskopie, die in den nachfolgenden Jahrzehnten immer mehr an Popularität gewann. Fortschritte in der Linsentechnik des 19. Jahrhunderts ermöglichten es den Wissenschaftlern Matthias Schleiden und Theodor Schwann, die Grundlagen der Zelltheorie zu entwickeln. Diese besagt, dass Pflanzen und Tiere gleichermaßen aus Zellen aufgebaut sind [2]. Dadurch rückten schließlich intrazelluläre Strukturen zunehmend in den Fokus, beispielsweise der von Camillo Golgi mittels Silberfärbung entdeckte Golgi-Apparat [3].
Mit der Entwicklung der Elektronenmikroskopie im 20. Jahrhundert begann eine neue Ära der zellulären Forschung, die weit über das von Hooke und van Leeuwenhoek Entdeckte hinaus ging. Das erste Transmissionselektronenmikroskop (1931) ermöglichte eine nie dagewesene Auflösung zellulärer Strukturen. Darauf folgten die Phasenkontrastmikroskopie (1932) und die konfokale Lasermikroskopie (1957), die immer detailliertere und dynamischere Darstellungen von Zellen und Organellen erlaubten [4].
Im 21. Jahrhundert schließlich eröffneten Kryo-Elektronenmikroskopie und Kryo-Tomographie den Zugang zu nahezu nativen, dreidimensionalen Ansichten von Molekülen und Organellen innerhalb lebender Systeme. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass selbst in der Gegenwart noch grundlegende Strukturen neu beschrieben werden können. Ein Beispiel dafür ist die kürzlich entdeckte Struktur des Hemifusoms, die erstmals in der Publikation „Hemifusomes and interacting proteolipid nanodroplets mediate multi-vesicular body formation“ (Tavakoli et al. 2025) in Nature Communications beschrieben wurde [6]. Die Studie entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen der University of Virginia und den National Institutes of Health. Beim Hemifusom handelt es sich um eine bisher unbekannte, vesikuläre Organelle, die nur durch die Anwendung hochauflösender Kryo-Elektronentomographie sichtbar gemacht werden konnte [6].
Hemifusome sind Vesikel-Komplexe bestehend aus zwei ungleichen Vesikeln (Abb. 1), die teilweise miteinander verschmolzen sind und dabei eine ausgedehnte gemeinsame Membranfläche bilden, welche die Forschenden als „hemifusion diaphragm“ (HD) bezeichnen. Typischerweise befindet sich am Rand dieser Kontaktstelle ein winziger Proteolipid-Nanodroplet (PND), ein nur rund 42 Nanometer großer Tropfen aus Fett- und Eiweißstoffen. In den hochauflösenden Bildern wirkt er wie ein kleiner Knopf an der Membran (Abb. 1, links). Dieses immer wiederkehrende Muster aus Vesikelpaar, HD und PND war der Schlüssel, um Hemifusome als eigene Organelle zu identifizieren, da vorher geglaubt wurde, dass es sich bei diesen Strukturen nur um zufällig entstehende Intermediärzustände handelt [6].
Besonders spannend ist, dass Hemifusome in zwei morphologisch unterschiedlichen Varianten auftreten: einer direkten (Abb. 2, links) und einer invertierten Form (Abb. 2, rechts). Man könnte sagen, sie sind wie ein Legostein, der sich von zwei Seiten anfügen lässt, einmal mit der Öffnung nach außen und einmal nach innen gekehrt. Trotz dieser unterschiedlichen Orientierungen bleibt die Grundstruktur erhalten. Zwei Vesikel teilen sich eine Kontaktfläche und sind mit einem PND verknüpft [6].
Überraschend ist auch, wie häufig diese Strukturen vorkommen. Analysen zeigen, dass bis zu zehn Prozent der vesikulären Organellen in der Zellperipherie Hemifusome sind. Sie sind also keine seltene Ausnahme, sondern ein wiederkehrendes Element im komplexen Innenleben der Zelle. Das kleinere der beiden Vesikel weist dabei meist ein durchsichtiges Lumen auf, während das Größere mit körnigem Material gefüllt ist, ähnlich wie man es von Endosomen kennt. Das deutet darauf hin, dass das kleinere Vesikel mit einer sehr proteinarmen, wässrigen Lösung gefüllt ist, während das größere Vesikel einen proteinreichen Inhalt aufweist [6].
Die Bedeutung der Hemifusome liegt vermutlich in der Organisation des zellulären Recyclingsystems. Ein wichtiger Bestandteil der Proteinsortierung in der Zelle ist der ESCRT (engl. endosomal sorting complexes required for transport)-Signalweg. Dessen Komponenten fördern im Endosom die Bildung intraluminaler Vesikel (ILVs) und sind somit wesentlich an der Entstehung von sogenannten multivesikulären Körpern (MVBs) beteiligt. Die neuen Beobachtungen von Tavakoli et al. deuten darauf hin, dass Hemifusome einen alternativen, ESCRT-unabhängigen Mechanismus zur Bildung von MVBs darstellen. Die enge Verbindung zu Proteolipid-Tropfen könnte dabei entscheidend sein: Diese Tropfen reichern Lipide und beteiligte Membranproteine lokal an und stellen dadurch die Bausteine für die Vesikelabschnürung sowie die Stabilisierung der entstehenden MVBs bereit [6].
Die Entdeckung der Hemifusome ist nicht nur aus zellbiologischer Sicht spannend, sondern könnte auch medizinisch neue Wege eröffnen. Da sie offenbar eine zentrale Rolle für Recycling und Signalweitergabe innerhalb der Zelle spielen, könnten fehlerhafte Hemifusome mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung stehen. Störungen im Endomembransystem sind bereits bei neurodegenerativen Erkrankungen, Virusinfektionen und Krebs beschrieben worden, und Hemifusome könnten hier ein bislang übersehener Faktor sein. Zukünftige Forschung muss klären, ob die gezielte Beeinflussung dieser Strukturen neue therapeutische Möglichkeiten offenbart [6].
Die Entdeckung des Hemifusoms zeigt, dass die Zelle noch längst nicht vollständig verstanden ist. Trotz jahrhundertelanger Forschung lassen sich mit moderner Technik immer noch neue Strukturen finden, die unser Bild vom Leben verändern. Vom Blick durch Hookes Mikroskop auf einfachen Kork im 17. Jahrhundert bis zu den heutigen Kryo-Tomographien von Zellen spannt sich eine Linie der Erkenntnisse, und das Hemifusom fügt sich nun als weiterer überraschender Baustein in dieses Bild ein.
[1] https://www.britannica.com/technology/microscope/History-of-optical-microscopes, 28.08.2025
[2] https://education.nationalgeographic.org/resource/history-cell-discovering-cell/?utm_source=chatgpt.com, 28.08.2025
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Camillo_Golgi, 28.08.2025
[4] https://www.sciencelearn.org.nz/resources/1692-history-of-microscopy-timeline?utm_source=chatgpt.com, 28.08.2025
[5] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hooke-microscope.png, 28.08.2025
[6] Tavakoli, A., Hu, S., Ebrahim, S. et al. Hemifusomes and interacting proteolipid nanodroplets mediate multi-vesicular body formation. Nat Commun. 16, 4609 (2025).
Preview-Bild: https://pixabay.com/de/photos/mikroskop-zelle-untersuchen-1471068/
Geschrieben von Pauline Kipp